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Rosalie - ein Jahresrück- und -vorblick

Rückblick. Gestern war 4. Advent. Ein knackig kalter Wintertag; selbst im Wintergarten haben die Pflanzen ein wenig den Frost zu spüren bekommen. Das Feuer im Kachelofen verbreitet im Haus eine wohlige Wärme. Ich liebe das Knistern und Knacken des Holzes. Heimelige Heimat verbreitend.

Gestern nahm ich mir endlich die Zeit, die guten Stube ein wenig aufzuräumen. Endlich dürfen die vier wunderschönen rot gefärbten Bienenwachskerzen den Advent auch bei mir einleuchten – gleichmäßig hoch brennen sie und werden mich von nun an die letzte Adventswoche bis zum Weihnachtsfest begleiten. Wie jeden Morgen wache ich auch heute viel zu früh auf und schäle mich aus dem Bett hinüber aufs Sofa im Wohnzimmer an den PC. Schreiben: eine Möglichkeit den sich düster ausbreiten wollenden Gedanken den Raum zu entziehen. Draußen ist es noch dunkel, drinnen schimmern vier Kerzen und verbreiten einen angenehmen warmen Glanz im Zimmer. Das Knistern der Holzscheite im Ofen tut so gut. Nun noch eine Tasse Kaffee geholt, und dann darfs los gehen, mitten hinein in die Geschichte des etwas anderen Jahresrück- und -vorblickes.

Noch ist es kalt im Zimmer. Ich packe kurzerhand meine Bettdecke und kuschele mich aufs Sofa ein. Rosalie sitzt über mir auf dem Fensterbrett und lächelt ein leises verhaltenes Lächeln. Ich habe neben sie ein Teelicht gestellt, das lässt sie wie von innen heraus strahlen. Frisch gewaschen sitzt das Püppi da und wärmt mein Herz. Seit Mitte November hing die kleine Stoffpuppe drüben im Wald am Wegesrand in den Zweigen. Ein aufmerksamer Spaziergänger hat sie da wohl hineingehängt, hoffend, dass die Besitzer sie dort finden mögen. Da hing sie nun wochenlang in Wind und Wetter, wartend ...

Seit Wochen breitet sich in mir eine körperliche Erschöpfung aus, die nicht sehr viele Tätigkeiten am Tag zulässt. Der Schriftkram türmt sich auf dem Tisch, Formulare wollen ausgefüllt und abgeschickt, Postkarten und Briefe geschrieben werden, und ungeöffnete Post wartet geduldig auf einem Stapel. Es hat keinen Sinn, den täglichen Kampf weiter zu führen. Ich weiß, wenn ich so weitermache, würde ich ganz ans Ende meiner Kraft gelangen. Heute beschließe ich: Der 4. Adventssonntag ist ein guter Tag, dass heute endlich auch bei mir die Kerzen brennen. Ihr Licht verbreitet Wärme in mein Herz. Ich blicke auf, Rosalie lächelt. Ich schreibe weiter. Anstatt eines Jahresrückblicks über meine Sorgen, Fragen und Nöte zu schreiben erzähle ich ihr folgende Geschichte:

Es ist Adventssonntag. Die fahle Dezembersonne neigt sich dem Ende des Tages entgegen. Ich beschließe noch eine kleine Runde hinüber zum Wald zu gehen. In der mir vertrauten Übungshaltung betrete ich bewusst den kleinen Pfad am Waldrand. Gedanken kommen und gehen, nichts davon möchte ich festhalten, doch in der Stimmung der Überanstrengung der letzten Monate, der Ratlosigkeit der letzten Wochen bleibend gehe ich absichtslos achtsam meinen Weg. Dieses Jahr war hart und legte alles bloß, was nicht mehr wichtig war und ist. Die Natur hat es mir schon gezeigt, bevor ich mich der eigenen Situation bewusst stellte. Zu oft und in zu kurzer Zeit hintereinander war das Wäldchen brutal kahlgeschlagen, zerstört, war der Boden verdichtet worden. Die Brombeerranken wucherten das ganze Jahr über alles zu und nahmen den neuen Keimlingen zunehmend Luft und Licht zum Wachsen. Dort, wo die ersten Pionierpflanzen und Waldblumen den Raum der letzten Rodung licht, bunt und hell erscheinen ließen und eine Atmosphäre von Leichtigkeit, Hoffnung und Zuversicht verbreitet hatten, dort wars nun kahl, zermatscht, zerdrückt und von tiefen breiten Reifespuren zerfurcht. Jedes Mal, wenn ich in diesem Jahr durchs Wäldchen ging, beschlich mich das Gefühl von Ratlosigkeit und Ohnmacht, keimten Gedanken auf wie: Ist auch mein Leben an diesem Punkt? Ist diese letzte Rodung zu viel des Guten gewesen? Können in so kurzer Zeit des Niedergangs die gesunden Triebe dennoch sprießen? Oder kann ich einfach nur nicht mehr das Neue, sich entfalten Wollende in dem Chaos erkennen?
Die vorletzte Rodung vor vier Jahren hatte lichten Raum geschaffen und vielen neuen Pflanzen eine Heimat geschenkt. Auch in meinen eigenen vergangenen Jahren war so ein Raum entstanden. Gleich den Pionierpflanzen im Wäldchen entfalteten sich meine Ideen licht und bunt, wuchsen und wurden von mir erfolgreich sichtbar nach außen getragen. Die dritte Rodung kam schnell, brutal, düster und hinterließ nurmehr Spuren der absichtsvollen Zerstörung. Vergebens halte ich seitdem Ausschau nach neuen bunten Blumen, und nur mühevoll bahne ich mir Wege durchs Dickicht der alles überwuchernden Brombeeren. Es scheint mir, dass auch mein Jahr so war wie dieses Suchen, Tasten, sich den Weg mühevoll durch Dornen bahnen. Der Weg ging trotz Widerhaken immer wieder weiter. Doch wie es so ist, wenn man ins Dickicht gerät: Kein Ziel ist zu sehen, kein Fingerzeig, kein Ausweg. Du gehst Schritt für Schritt - achtsam und langsam. Und während du gehst befreist du dich immer wieder von Dornen und Gestrüpp, die deine Beine umfassen und zerkratzen. In solchen Situationen solltest du ab und zu innehalten, hoch in den Himmel schauen. Dort ist Weite und Licht. Von dort kommt Hoffnung und der Mut zum weiter gehen.

Das Jahr neigt sich dem Ende entgegen. Was zählt noch? Wo geht die Reise hin? Was darf bleiben, was soll gehen? Mit diesen Fragen gehe ich durchs Dunkel der Wintersonnenwendzeit, gehe ich in die Weihnachtszeit mit seinem Licht. Mit diesen Fragen gehe ich hinaus ins Wäldchen in die fahle Sonne diesen Dezembertages, streife umher, genieße die Frische des Schnees auf den Zweigen und dem Weg. Der Schnee gibt dem zerschundenen Wäldchen von seinem hellen Glanz. Ich schreite weit aus, vorbei an gefallenen, gebrochenen Bäumen. Eine uralte Eiche, geborsten, tot, lehnt an der Nachbareiche wie halt- und hilfesuchend. Was ewigwährend, stark und ehernes Gesetz schien bricht, stirbt, krankt, sucht Halt, reißt im Fall noch vieles mit sich nieder. Der Waldrand wird geschützt von einer Hecke aus Schlehen, Hagebutten, Weißdorn. Hier finden Vögel und Wild Schutz und Nahrung. Ich schreite über die Streuobstwiese, vorbei an den still dastehenden Bienenkästen hin zur alten zerborstenen Weide, Zeugin einer willkürlich zerstörerischen menschlichen Kraft. Ihre Silhouette zeichnet sich gegen das fahle Licht des Himmels ab. Filigran wirkt sie, die alte Weide, ihre Zerbrechlichkeit berührt mich. Und doch sind da neue, starke Triebe am zerborstenen brüchigen alten Stamm. Als grüßten sie herüber zu mir: Lebe! Gib nicht auf! Sei die Du bist! Sei! Ermutigt gehe ich weiter, gehe über gefrorene Flurwege vorbei am Ackerland. Genieße die frostige Frische der Luft. Atme die Weite der Landschaft ein. Schon nähere ich mich meinem Ausgangspunkt, dem Wäldchen. Da blinkt mir etwas von Weitem entgegen, etwas Helles, Menschenähnliches baumelt an einem Zweig. Es ist ein Püppchen, das ich bereits sah und hängen ließ, damit das Kind, dem es gehört, es wiederfände.

Heute rührt mich die kleine dünne Stoffgestalt so an, dass ich sie mitnehme. Zuhause wasche ich sie und lege sie zum Trocken auf die Heizung. Ein leichtes, verhaltenes Lächeln umspielt das kleine Puppengesicht. Leicht rosa ist das Puppenkind, es strahlt etwas Zerbrechliches, Zartes aus. Ich nenne sie Rosalie. Sie wird mich durch den Winter begleiten und erinnern: In deinem Innern ist ein zerbrechliches, zartes Wesen – hüte es und versorge es gut, damit es gesund durch den rauen Winter kommt.

 

Ich blicke auf, das Holz im Kachelofen knistert. Rosalie lächelt und zwinkert mir zu als wollte sie mir sagen: Vertraue und bleib auf deinem Weg. Solange du mich bei dir hast wird alles gut.

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Kommentare: 3
  • #1

    Gaby Will (Dienstag, 20 Dezember 2022 15:06)

    Heute ist ein Tag der besonderen Geschichten für mich.
    Deine, liebe Elke, reihte sich stimmig in die anderen ein.
    Danke dafür! Gaby

  • #2

    Bianca (Dienstag, 20 Dezember 2022 22:31)

    Liebe Elke,
    eine berührende kleine Geschichte.
    Ich wünsche dir, dass dein gemeinsamer Weg mit Rosalie in 2023 dich mit Licht und neuer Lebensenergie versorgt.
    Alles Liebe, Bianca

  • #3

    Danielle Berg (Sonntag, 25 Dezember 2022 12:33)

    Liebe Elke,
    eine sehr berührende Geschichte ❤️
    Ich wünsche dir, dass die kleine Rosalie den einen zarten Lichtblick geben wird, der dich durch die dunkle Jahreszeit trägt und dass im Frühjahr wieder ganz still und heimlich neue Triebe erkennbar werden.
    Liebe Grüße
    Danielle

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