Alles ist so trist und trübe...
Ein junger Mann sitzt an einem See. Er wälzt schwere Gedanken, Sorgen und Fragen hin und her. Täglich arbeitet er auf den gepachteten Feldern, um sich und seine alte Mutter zu ernähren. Doch so sehr er sich auch abmüht, der Ertrag reicht gerade so zum Überleben. Mit der Zeit erschöpft sich der junge Mann, die Arbeit fällt ihm schwerer und schwerer, Sorgen plagen ihn Tag und Nacht. Selbst die Natur um ihn herum, so scheint es ihm, wird trister und grauer: Der See, an dem er sitzt ist trübe, obwohl er von den klaren Quellen der Berge gespeist wird. Warum ist das so? Schließlich hält es der junge Mann nicht mehr aus, er will Klarheit erlangen und wissen, warum dies alles so ist. Er ahnt bereits, dass alles mit allem zusammenhängt– in seinem Inneren wie in der äußeren Welt, wie sie sich ihm zeigt. Er bricht auf und macht sich auf die Reise.
Hand aufs Herz. Wem ist es nicht schon einmal in seinem Leben so gegangen wie diesem jungen Mann! Das Leben und die Arbeit wird schwerer und schwerer, die Lasten des Alltags drücken einen nieder, Sorgen und Nöte plagen einen tagsüber und in der Nacht lassen sie dich nicht zur Ruhe kommen.
Märchenhaftes Leben - gibts das? Das gibts!
Ein Leben wie im Märchen?
Hui, so haben wir uns aber Märchen gar nicht vorgestellt. Wie auch! Märchen kennen wir aus den Filmen, sie sind süßlich, schön und wunderbar utopisch, und sie entrücken uns aus unserer harten
realen in ihre „märchenhafte“ Welt.
Aber Märchen gehen ja immer glücklich aus, haben ein happy End!
Ja, ja! Doch vergessen wir bei solchen Gedanken immer, dass Märchen einen Anfang haben, an dem es immer um eine Mangel- oder Krisensituation geht!
Und aus dieser Anfangssituation heraus begibt sich der oder die Märchenheld:in auf eine Reise ins Ungewisse, in ein Abenteuer, in die Fremde und damit auch in die Gefahr zu scheitern.
Märchen beschreiben Entwicklungswege
Diese Reise nennt man Heldenreise oder die Reise des Helden zu sich selbst.
Auf dieser Reise begegnen dem Märchenhelden Helfer und Widersacher, über die der Held seine Fähigkeiten und Anlagen weiterentwickelt: Die Reise beschreibt die Entwicklung des Helden aus einer Situation heraus, die abgeschlossen und unerträglich geworden ist hin zu einer neuen Situation, die er noch nicht kennt.
Damit beschreibt das Märchen märchenhaft in seiner ihm eigenen bildhaften Sprache das, was wir die Entwicklung der Persönlichkeit des Menschen nennen.
Der in diesem Beitrag beschriebene Beginn des von mir gewählten Märchens lässt sich im Märchencoaching nicht nur sehr gut auf vielfältige Situationen im Leben eines Menschen übertragen, er passt auch wunderbar in die herbstliche Jahreszeit. Der Herbst, Übergangszeit vom Sommer in den Winter, lässt uns im Außen auf natürlich Weise erleben, was wir in unseren eigenen inneren Übergangs- und Krisenzeiten in uns auf seelischer Ebene tragen und oft genug im Alltag verdrängen und wegdrücken wollen: Ängste, Sorgen, Nöte, Trauer, Verlust.
Natur und Märchen sind Spiegel der Seele
In meinem Herbstkurs schicke ich die Teilnehmer:innen mit dem jungen Märchenhelden auf die Reise in die Natur hinaus. Wie ein Forscher, der sich auf unbekanntes Terrain begibt kommen wir Schritt für Schritt dem Märcheninhalt auf die Spur. Impulse aus und Achtsamkeitsübungen in der Natur unterstützen uns dabei. Das Märchen breitet sich nach und nach vor uns in seiner ganzen Komposition wie eine Landschaft aus. Jede Szene gleicht einer Wegbiegung, um die wir gehen und auf „Neuland“ blicken. Im Laufe des Kurses erkennen wir: Jede Begegnung des Märchenhelden variiert das Grundthema, das im Märchen immer zu Beginn mit ganz wenigen Worten beschrieben wird.
In unserem Märchen heißt es: Den Helden drücken trübe Gedanken und Sorgen und er bemerkt, dass auch der See, an dem er so gerne sitzt, trübe geworden ist. Er bemerkt den Spiegel der Natur.
Diesen Spiegel nutzen wir, um die verborgenen Botschaften des Märchens zu ergründen.
Das Märchen bietet uns drei Szenen an, in denen es bildhaft beschreibt, um was es eigentlich hinter der ganzen äußeren Geschichte geht. Das Märchen fordert den Märchenhelden in diesen Szenen auf: Schau hinter die Dinge, schau hinter deine Sorgen, Nöte und Fragen. Erkenne den eigentlichen Grund, der dich in diese Situation gebracht hat. Und wie im „echten“ realen Leben versteckt sich die Wahrheit auch im Märchen hinter den äußeren Dingen: Von außen betrachtet erlebt der Held drei Begegnungen, die ihn unterstützen und für die er etwas verspricht zu tun. Ganz genauso ergeht es uns in unserem Alltag: Wir sind mehr oder weniger bewusst - unbewusst unterwegs und haben zig Begegnungen jeden Tag. Wer einmal darauf achtet, was ihm da jeden Tag entgegenkommt, der kann diese Begegnungen tatsächlich als tägliche kleine Geschenke und Impulse des Lebens begreifen: Schau einmal genau hin, achte auf deine Gedanken, achte auf deine Gefühle dabei. Hinter all diesem liegt verborgen, um was du dich kümmern solltest, damit es dir weiterhin gut geht und du gesund und munter durchs Leben gehen und dein Leben meisten kannst.
Jedes Märchen trägt eine Botschaft in sich
Im Kurs haben wir die Szenen der drei Begegnungen des Märchenhelden erforscht und sind dem Grundthema auf die Spur gekommen. Es geht um eine unerträglich gewordene Gefühlslage, um einen Gefühlsmix, der depressiv, sprachlos, ohnmächtig und wütend macht. Im Märchen wird dies bildhaft immer wieder mit dem Element Wasser verbunden, welches sich von Beginn bis zum Ende des Märchens verwandelt. Die Entwicklungs-Reise des Jünglings, sein „gutes Herz“, seine Ausdauer und Standhaftigkeit und das Vertrauen in sich selbst bringen letztendlich Klarheit und Wohlstand in diese Gefühlslage: Der See wird klar, verstummte, ohnmächtige, triste und zornige Gefühle vereinen sich in Liebe.
Die Botschaft meines gewählten Märchens an uns, an den Märchencoach und Lebensbegleiter:
Kläre Gefühle und Emotionen. Erkenne, was hinter diesen Gefühlen verborgen ist und lass dir vom Märchen raten, wie du damit umgehen kannst. Du Mensch hast es in der Hand, ob deine Emotionen dich überwältigen und mit sich ins Unglück reißen, oder ob sie dich beflügeln und voller Lebendigkeit und Freude durchs Leben tragen.
Leben ist Lebendig sein, ist Bewegung und Freude – Lebendigkeit gleicht einer sprudelnden Quelle.
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Rupert (Samstag, 12 November 2022 21:34)
Sehr bewegend, sehr nah, sehr hilfreich... wenn man die notwendige Nähe und Betroffenheit zulässt.
Danke dafür�