Wie alles begann
Nils wurde am 12. Mai 1995 geboren. Seine Schwester Sophia war zu dieser Zeit ein Jahr und drei Monate alt. Sie und wir, ihre Eltern, lebten zu dieser Zeit bei den Großeltern Wagemann in Nürnberg. Unser Häuschen war immer noch nicht fertig renoviert. Die Arbeiten zu seiner Fertigstellung gestalteten sich mit zunehmendem Familienzuwuchs und beruflichen Aufgaben als langwieriger und aufwändiger als angenommen. Unsere kleine Familie zog nach Nils Geburt zu den Großeltern Fischer. Dort waren die Räumlichkeiten geeigneter, um uns für längere Zeit zu beherbergen. Doch waren nun die Wege zu unserem eigenen Haus auch weiter. Mein Mann Stefan verbrachte jede mögliche Zeit am Bau, ich versorgte unterdessen die Kinder, lebte und brachte mich in der Großfamilie Fischer mit ein.
Schicksalsjahr 1995
Das Jahr 1995 war für beide Familien – Fischer und Wagemann – ein anstrengendes und bedeutungsschweres Jahr. Im Sommer erlitt Großvater Fischer während seiner Reise in Ungarn einen schweren Schlaganfall, von dem er sich nie wieder erholen sollte. Nach seinem Krankenhausaufenthalt oblag es mir, die anstehenden Autofahrten zu Arzt- und Therapeutenbesuchen sowie für Erledigungen aller Art zu übernehmen, denn außer ihm war kein anderer Autofahrer mehr in der Familie vor Ort. Die folgenden Zeiten wurden zunehmend für unsere Kleinfamilie eine Gradwanderung und ein Kraftakt zwischen Aufbau der eigenen Existenz und den Belange der Großfamilie, deren Teil wir waren und deren Versorgung wir genossen, gerecht zu werden. Die folgenden Monate waren geprägt von einer geradezu grimmigen Willensanstrengung aller Familienmitglieder, den normalen vertrauten Familienalltag wieder aufzunehmen. Es sollte jedoch nicht wieder so werden wie es einmal war.
Dezember 1995. Der Konflikt zwischen den Belangen unserer Kleinfamilie und dem der Großeltern wurde eine zunehmende Belastung im Alltag. Der Kraftakt war kaum mehr zu stemmen, allem gerecht zu werden. Für jeden der Familienmitglieder. Unser Hausumbau war fast fertig, wir wollten so rasch es ging umziehen. Für diese Zeit wurden Sophia und Nils stundenweise von einer befreundeten Tagesmutter versorgt. Wir Eltern konnten durch diese Hilfe den Umbau und Umzug rascher vorantreiben. Mitten in den Umzugsaktivitäten bekam Nils, inzwischen fast 8 Monate alt, hohes Fieber. Der Arzt konnte nichts Wesentliches entdecken. Nils aß und trank den Umständen entsprechend noch gut, doch schlugen weder die Medikamente noch die Hausmittel, die wir kannten, an. Das Fieber blieb unverändert auf über 40 Grad- den täglichen Arztbesuchen zum Trotz. Nach ein paar Tagen entschied sich der Arzt zu einer Antibiotika-Behandlung, um eine vermutete Harnwegentzündung zu behandeln.
Diagnose bakterielle Encephalitis
Was ab diesem Zeitpunkt geschah, spult sich wie ein Film ab: Mit Nils und unseren Umzugssachen im Auto fuhr ich zur Apotheke, um die nötigen Medikamente zu holen. Als ich zurück zum Auto gehe, finde ich mein Baby zuckend und krampfend im Kindersitz vor. Es ist kurz vor 18 Uhr, kurz vor Laden- und Praxisschluss. Ich rase zurück zur Arztpraxis. Gottlob, es ist noch jemand da. Drinnen geht alles sehr schnell. Mein Baby bekommt etwas Beruhigendes. Es atmet! Das ist das Einzige, was ich wie durch einen Schleier wahrnehme und noch in Erinnerung habe. Ich bekomme nicht mit, wie ein Krankenwagen bestellt wird. Wir fahren am 19. Dezember 1995 abends mit Blaulicht durch die Stadt zur Kinderklinik. Dort wird Nils von mir getrennt. Hinter verschlossen Türen wird eine Rückenmarkspunktion durchgeführt, um Nervenwasser für die eindeutige Diagnose zu entnehmen: bakterielle Encephalitis. Nils wird auf die Intensivstation verlegt. Ich habe keine Ahnung mehr, wer wann wohin gegangen und wen angerufen hat.
Leben im Ausnahmezustand
Stefan und ich zogen mit Sophia nach Nürnberg zu den
Großeltern Wagemann. Sophia wurde dort gut behütet und versorgt, mein Mann bekam von seiner Arbeit unbegrenzt frei. So hatten wir alle Zeit der
Welt - für Nils. Wir verbrachten sie abwechselnd bei ihm auf der Intensivstation und mit Sophia.
Nils lag drei Tage im Koma. Einen Tag vor Weihnachten kam er wieder zu sich, doch zuckte und krampfte er so heftig, dass er sofort wieder mit Medikamenten ruhig gestellt werden musste.
„K.o.-Tropfen“ haben wir diese Medikamente genannt.
Mit Nils auf meinem Bauch fuhr ich in „die Röhre“. Danach war klar, was geschehen war: Die Bakterien hatten mehrere Bereiche im Gehirn verletzt, man konnte diese Abszesse sehr gut als mehrere helle Flecken im Gehirn erkennen. Diagnose: Pneumokokken-Encephalitis. Die sichtbare Folge der Entzündungsherde: Epileptische Anfälle. Diese galt es nun mit Medikamenten in den Griff zu bekommen. Doch es gelang und gelang einfach nicht. Nils erwachte, hatte Anfälle und sank durch K.o.-Tropfen beruhigt wieder in den Schlaf zurück. Ich erinnere noch, dass er immer, wenn ich bei ihm war, keine Sauerstoffzufuhr benötigte. Irgendwo musste er mich also wahrnehmen, ein tröstliches Gefühl.
Nils verließ nach gut 6 Wochen die Intensivstation. Ende Februar durften wir dann das Krankenhaus verlassen. Die Diagnose: Sie haben ein behindertes Kind. Es wird sie vermutlich nicht erkennen, keine Erkennungszeichen äußern können. Es wird Pflege und einen Rollstuhl brauchen.
Wir können uns das alles noch gar nicht vorstellen.
Stehen unter Schock.
So leben wir heute
Aus heutiger Sicht (Oktober 2022) kann ich berichten: Wir haben unser Leben bis hierher gut gemeistert.
Nils wuchs zusammen mit seiner Schwester Sophia in unserer kleinen Familie auf. Er besuchte eine SVE (schulvorbereitende Einrichtung) und verbrachte eine sehr schöne Zeit als Kindergarten- und
Schulkind in einer Schule für schwer mehrfach Behinderte, später lebte er in einer Wohneinrichtung in der Nähe Nürnbergs. Unser aller Leben wurde und wird immer noch sehr von dem seinen geprägt.
Als Eltern stehen wir Seite an Seite, wenn mal wieder ein Krankenhausaufenthalt oder eine OP ansteht. 2016 war ein erneutes Schicksalsjahr. Nils Wirbelsäule wurde der ganzen Länge
nach in einer OP an einen Titanstab geschraubt. Weitere OPs stehen an.
Nils lebt heute in einer Wohn- und Förderstätte für erwachsene Behinderte im Süden Bayerns, 116 km von uns entfernt. Ich habe meine berufliche Laufbahn nach der großen OP an den Nagel gehängt und
bin seitdem als Managerin rund um die Belange meines Sohnes tätig und verbringe mit ihm viel Freizeit und Urlaube. Nils Papa besucht ihn am Wochenende, macht viele Ausflüge mit ihm und kümmert
sich um administrative Belange unseres Sohnes.
Mein Mann und ich begleiten ihn als Eltern weiter, unsere Wege als Paar haben sich jedoch schon lange getrennt. Unsere Tochter studiert und begleitet ihren Bruder wann immer sie kann.
Soweit von uns :-)
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Ingrid (Sonntag, 30 Oktober 2022 17:52)
Liebe Elke,
im Grunde meines Herzens fehlen mir die Worte.....
Gottes Segen sei auf allen Wegen weiterhin mit euch.
In Liebe und Hochachtung
Deine Freundin
Ingrid
Anne (Montag, 31 Oktober 2022 15:56)
Liebe Elke,
eure Geschichte berührt mich sehr. Von Herzen wünsche ich euch weiter viel Kraft und Vertrauen.