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Die alte Weide

Meine Rundgänge über Land, Wald und Flur führen regelmäßig zu einer kleinen Böschung. Schlehen, Weißdorn und Holunder sichern dort die Flur vor Austrocknung und Erosion. Unser Land ist karg, sandig und humusarm. Ohne Hecken trüge der Wind, spülte der Regen die Bodenkrume fort. Das Besondere an dieser Hecke: Eine alte Weide führt ihren Reigen an, eine Tänzerin, deren typische Silhouette schon von Weitem aus der Ferne zur Spaziergängerin herübergrüßt. Was sucht eine Weide hier im staubig kargen, trockenen Ackerland? Weiden sind Wasserwesen, ohne Wasser können sie nicht überleben! Auch diese Weide lebt vom Wasser, lebt vom einzigen Wasserloch weit und breit, dass sich an dieser Stelle bei Regenwetter bildet. Etwas toniger Untergrund reicht aus, um hier das Wasser zu stauen und Wasserwesen wie der Weide eine Heimat zu geben. Die Stelle ist bekannt für temporäre Schlamm- und Wasserstellen.

Sitz zum Verweilen und Ausruhen

Der Stamm der Weide war dicht über dem Boden in mehrere größere Stämme unterteilt. Die Weide ist kein Freund gerader Stämme und aufrechter Statur. Ihr Wesen ist windend, schlängelnd, sich den Gegebenheiten der Natur hingebend. Sie lebt vom Wasser, wächst und wurzelt leicht und schnell an wässrigen Orten. Brüchig ist die Weide, doch sogleich wächst aus dem Bruch neues Leben hervor, wurzelt ein abgerissenes Zweiglein im Boden dort, wo es genügend Wasser und lehmigen Grund findet. Weiden leben am und vom Wasser. Ihr Leben ist vom Wasser geprägt, fließend ihre Bewegungen, fließend, gebeugt und dem Wasser zugeneigt ihr Aussehen. Diese alte Weide hatte mehrere Stämme, die sich nah am Boden aus einem Stamm heraus in drei Richtungen herauswanden. Einer dieser dicken Stämme war bereits herausgebrochen. Ein unbekannter Besucher hatte Fichtenzweige hierhergebracht und einen gastlichen Sitz zum Verweilen und Ausruhen geschaffen. Geschützt umgeben von der Weide und dem Blick des Spaziergängers verborgen konnte man an diesem Ort lange sitzen und verträumt auf Wiese, Wald und Lichtung schauen, die Zeit vergessen. Träumen, der Sorgen und der Zeit enthoben, auch dies scheint mir der Weide wässriges Wesen zu begünstigen, scheint mir ihr Geschenk an diejenigen zu sein, die dieses Wesen in sich mit ihr teilen.

Spenderin von Ruhe, Trost und Lebensmut

Die alte Weide wurde vor drei Jahren regelmäßig von einer meiner Klientinnen auf ihren Streifzügen durch die Natur aufgesucht. Sie liebte diese Weide.  Auf ihren Streifzügen durch den Wald fand sie immer wieder Dinge, und Erlebnisse erregten ihre Aufmerksamkeit, die sie selbst beim Erzählen mit Themen rund um Abschied und Tod verknüpfte. Ihre Erwartungen und Wünsche, in der Natur mehr Klarheit im Leben zu finden, wurden dadurch immer wieder irritiert. Was haben diese Naturerlebnisse, die sie an Tod und Abschied erinnern, mit Klarheit zu tun? Von solchen Fragen aufgewühlt fand die Klientin Ruhe, Trost und Lebensmut bei der alten Weide.
Nicht lange nach dieser Zeit erkrankte ihre Mutter schwer. Es folgte eine Zeit der Pflege und Sorge um die Mutter, und wieder war es die Weide, die Trost und Ruhe spendete, neue Kraft fürs Leben gab. Als ihre Mutter starb, ging ich in Gedanken an die Klientin übers Feld zur alten Weide. Dort lag, von Hitze und Trockenheit geprägt, einer der dicken Hauptstämme herausgebrochen auf dem Feldweg. Lang lag der dicke Stamm wie eine große Hürde quer im Weg, schon bildete sich ein kleiner Pfad herum. Schließlich lag der tote Stamm eines Tages zersägt und halb in die Hecke hineingeworfen da. Wohl um mitzuhelfen, diese zu stabilisieren und den neuen jungen Trieben Schutz vor Wildverbiss und Möglichkeiten des störungsfreien Anwuchses zu geben. Die Weide selbst überstand diese Zeit und den folgenden heißen Sommer.

Nur dort kann sich verjüngen, wo Altes sonst verholzt und abzusterben droht

Woraus schöpft so ein Wesen seine Kraft? Aus dem Wasser allein? Ihr Grund scheint genügend Wasser zu speichern um ihr Überleben zu sichern. Übertragen auf uns Menschen frag ich mich: Was gibt mir Halt und Kraft, wenn meine „Äste“ brechen? Loslassen alter Muster und Gewohnheiten, Verlieren geliebter Menschen, Verlust von Heimat und Arbeit, all dies können solche „Äste“ sein, die mir beizeiten abbrechen, zur Last werden oder einfach eingehen.
So kann die Weide mich lehren: Dort, wo etwas abbricht, losgelassen werden muss, dort kann Neues austreiben und wachsen. Nur dort kann sich verjüngen wo Altes sonst verholzt und abzusterben droht. Neues Leben ist ganz nah dort, wo du es nicht vermutest. Richte deinen Blick aufs Leben, baue auf den Fluss des Lebens und vertraue ihm, so wie die Weide sich dem Wasser anvertraut und auf das Wasser baut. Der Fluss des Lebens fließt und fließt und wird nie stille stehen. Fließe mit ihm und kämpfe nicht dagegen.

Alles braucht seine Zeit und viel Geduld

Vor einigen Monaten erlitt die Klientin ein schweres Aneurysma und war dem Tode nahe. Erschüttert von dieser Nachricht besuchte ich sie einige Wochen später und fand sie schwer beeinträchtigt in einem Rollstuhl sitzend. Doch sie ist da, wach, aufmerksam und will leben, will trainieren und ins Leben zurück! Alles braucht seine Zeit und viel Geduld. Wieviel Übung, Kraft, Zeit und Rückschläge wird sie erleben und erleiden müssen?
Lange Zeit war ich nicht übers Feld gegangen, nun ging ich unbewusst den Weg zur Weide. Von der Ferne sah ich: Dort, wo sie stand, ragte hoch auf ein Haufen braun vertrockneter Äste und Blätter. Erschüttert ging ich näher. Von der Weide war nur noch ein einziger Stumpf des letzten Stammstückes übrig, zerborsten auf 2 Meter Höhe. Doch dort, an einem halbaufgesplitterten Ast trieb frisch grün und kräftig die Weide aus! Immer wieder ging ich die Tage zu der Weide. Was hatte sie zerstört? Es war ein abgesägter Eichenbaum, der von wem auch immer hierhergebracht und auf die Weide mit voller Wucht geworfen wurde. Sie war unter dieser Wucht zerborsten. Warum? Muss solche rohe Gewalt sein, um eine Hecke zu stabilisieren? Ich glaub es nicht und kanns doch auch nicht wissen.

Das Lebendige in uns hält niemand auf!

Gestern habe ich die Weide wieder besucht. Sie wächst kräftig und treibt auch an den heruntergedrückten Zweigen unter dem toten Eichengezweig und -laub hervor.

Sie wird es schaffen und weiterleben!

Ich werde sie oft besuchen, mich zu ihr setzen, träumen, verweilen, um Heilung bitten. Für die Weide, für meine Klientin, für alles, was zu vertrocknen droht in der Natur, um mich herum und in uns Menschen.

 

Drei Weidenzweiglein stehen nun auf meinem Tisch in der Vase und erinnern mich daran: Rohe Gewalt und Einschläge bringen das Leben immer wieder zu Fall, doch das Lebendige in uns hält niemand auf: Es gibt uns Impulse, es erneuert uns, es wird neue Triebe und Wurzeln bilden. Und eines Tages wird daraus neues Leben wachsen und entstehen.

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Kommentare: 1
  • #1

    Sarah (Donnerstag, 13 Juli 2023 11:48)

    Sehr berührende Worte! Vielen Dank für das mit hinein nehmen in das Leben, Sterben und erneut Leben der Weide und deine gefühlten tiefen Gedanken, was all das mit unserem Menschleben zu tun hat, welche Botschaft wir da heraus pflücken können. Herzensgruß, Sarah (Märchen- und Geschichtenerzählerin)