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Die zwei Wächter

Der gebeugte Baum hat mich die Hingabe gelehrt, das Annehmen, das Mitgehen. Nun ist er fort, weggemäht von großen Maschinen, die letzten Herbst hier durch das Wäldchen walzten. Sie haben viele Bäume und Sträucher mit sich fortgerissen und einen zerwühlten offenen Boden hinterlassen. Von den Bäumen blieben nur noch Zellulosefasern und zertrümmerte Äste übrig. Gleich zerfetzten Gliedmaßen liegen sie verstreut am Boden. Dort, wo sie standen sind bizarre Muster übrig. Wie Gedenktafeln heben sich helle Umrisse von Stamm und Wurzeln mahnend vom dunklen Boden ab, surreal und faszinierend. Obwohl das Bild etwas erschreckend Zerstörerisches in sich trägt, ist es ästhetisch schön: Der Raum, sein sichtbar gewordener innerster Kern liegt  offen und in seiner ganzen Verletzlichkeit da.

 

Im letzten Jahr war das junge Wäldchen von Brombeerranken so verfilzt und verwoben, dass kaum ein Durchkommen mehr möglich war. Kein Atmen, kein Licht an manchen Stellen. Dazwischen stand mein Baum, vom Schlag getroffen niedergedrückt auf einer kleinen Lichtung. Ich hatte zunehmend Mühe, ihm einen Besuch abzustatten, so dicht und immer enger zogen sich die Dornen und das Gesträuch um ihn zusammen. Er musst´ es hinnehmen, beugte sich dem Schicksal. Nun ist er fort, mitgerissen von der Gewalt der abholzenden Maschinen. Ich vermisse ihn, und trotz der lichten frühlingshaften Stimmung weht noch immer seine leise Botschaft durch den Raum: Beuge Dich und sei dennoch stark. Wachse dem Licht entgegen, auch wenn Du gebeugt danieder liegst. Versuche es immer wieder, dem Licht entgegen, der Schwerkraft zum Trotz. Darin liegt mein Wesen, meine Kraft: In welcher äußeren Form auch immer ich da stehe, es ist meine innere Stärke, die aufrecht steht und mich hält.
Ich kann nur ahnen, dass sein Ruf die ein oder andere Birke noch am Leben hält im Kampf gegen Trockenheit, Wind und Krankheit, und eine Frage kommt mir in den Sinn: Machen Stürme und gewaltige Eingriffe es überhaupt erst möglich, dass sich des Menschen innerster Kern in seiner Verletzlichkeit offenbart? Und können Stürme und Gewalt dem Menschen gleich diesem Wald nur deshalb etwas anhaben, weil er in seinem innersten Kern verletzlich ist?

 

So schrecklich verwüstet der Waldboden auch war, so einzeln und verloren, fast nackt und teilweise mickrig dünn die Birken auch da standen, so sehr berührte er mich, ja mutete mich der Raum fast fröhlich gestimmt an. Der Boden war nicht hart und verdichtet unter meinem Schritt, nein er war erstaunlich weich und hatte eine Zartheit, die mich überraschte. Auch hier: Zartheit, Verletzlichkeit. Es war als würde der Raum in einem Moment zwischen Ein- und Ausatmen stehen bleiben. Nicht wie ein absichtsvolles gequältes Luftanhalten, sondern wie ein Moment der völligen Stille, des Gleichgewichts, ein Moment, in dem ALLES möglich sein konnte. Ein heiliger Moment, gleich  dem Blick eines Neugeborenen, aus dem heraus eine Zeit herauf schimmert, die es noch gar nicht gibt, die eine Ahnung zulässt von dem, was sich entfalten mag. Ein zauberhafter Moment, ein zarter Hauch, kürzer als ein Wimpernschlag , ein Erkennen und Verstehen jenseits aller Gedanken und Worte . Wer diesen Blick erhascht, der weiß: Alles ist möglich. Alles kann werden. Du musst nur den Zauberstab führen, und es wird.

 

All dies verspürte ich, als ich über den weichen Boden der geschundenen Lichtung ging. Etwas ist neu  geboren und alles ist möglich. Damals standen die wenigen Birken noch kahl und dunkel gegen den Novemberhimmel. Die Natur hielt auch im Jahreslauf den Atem an, zog sich zurück um vor meinen Augen verborgen neue Kraft fürs neue Jahr zu sammeln. Alles stand zart, verletzlich, still zwischen Ein- und Ausatmen da. Was würde sich im Frühjahr davon zeigen?

 

Nun ist es Frühling. Der Raum erstrahlt im ersten Birkenschimmer, die Vogel- und Traubenkirschen blühen weiß dazwischen, ein zauberhafter lichter Raum. Noch zeigt der Boden seine braune geschundene Fläche, deckt sich erst nach und nach mit grünen Kräutern zu. Veilchenkissen und Sternmierenfelder wechseln mit dunkelgrünen Brennesselnestern  und bilden einen frischen lebendigen Teppich. Fingerhüte, Lupinen, Rainfarn, sie alle schicken sich an und erinnern an den nahenden Sommer. Die Spechte klopfen um die Wette, Rotkelchen und Meisen singen ihr Lied. Am Abend geben sich die Singdrosseln und Amseln ein Ständchen. Der Kuckuck ruft seit einigen Tagen. Er ist zurück, ein gutes Zeichen scheint es mir. Die Rehe kommen vorsichtig aufs Feld, Fledermäuse fliegen. Der Mai und mit ihm sein wundervoller Zauber weht durchs Land und über diesen Ort.

 

Der Raum beginnt zu atmen. Die Erde atmet ihre Kräfte aus und mit ihr kommen Pflanze um Pflanze, Blatt um Blatt ans Licht. Noch ist der Moment ein heiliger und sehr zerbrechlich. Bekommt er genügend Nahrung und vor allem Ruhe, um sich entfalten zu können? Gleich einer großen Wunde, die nur langsam heilt, umhüllt er sich mit lichtem Grün und immer dichter werdendem Bewuchs. Ein neuer Zyklus beginnt. Bäumchen keimen und streben ans Licht. Und auch die Brombeerranken starten kräftig durch. Das Lichte, Helle, Zarte, hat es eine Chance?

 

Zwei junge aufrecht stehende Kastanien öffnen ihre Blütenkerzen. Gleich Wächtern stehen sie nebeneinander und bilden ein kleines Tor. Schreitet man hindurch umfängt einen der Zauber des lichten Birkenwaldes. Sie stehen davor, in dunklem Laub, stolz mit ihren hellen blühenden Fackeln rufen sie mir zu: Seid wachsam! Wacht auf! Schaut auf diese Schönheit. Sie ist berührbar, zerbrechlich, vergänglich und verletzlich. Sie bedarf der Wachsamkeit, der Ruhe und des Schutzes. Wir stehen hier und wachen und erinnern an ihre Verletzlichkeit, an ihren inneren Kern. Vergiss auch du deinen Kern nicht, er ist verletzlich, zart, berührbar. Dort sitzt dein Herz, dein Leben.

 

Kastanienwächter, Blütenkerzen gleich Kinderaugen leuchtend, eine Botschaft: Alles ist möglich. Du allein entscheidest, was!

 

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